"Oh wer darf mit Kunst und Liebe
Von den Sterblichen sich messen
Groß im scheuvermählten Triebe
Wird der Künstler nie vergessen."
[ Franz Sternbalds Wanderungen 1798, Berlin ]


Am ersten Tage einer neuen Woche, nach dem letzten Wochende der Fußballweltmeisterschaft, setzte ich mich heute auf den Sattel meines Drahtesels, der trotz rostiger Kette seinen Dienst erfüllte mich zum Dreifaltigkeitsfriedhof II an der Bergmannstraße in Kreuzberg zu befördern, an das Grab des Berliners Ludwig Tieck, der die romantische Epoche Deutschlands zu großen Teilen begründete, gemeinsam mit seinem Jugendfreund Wackenroder.
Immer mehr weiß ich in letzter Zeit mein Studium der Literatur zu schätzen, das mir die Universität nahelegt. In dieser Woche ist es meine Aufgabe, eine mündliche Prüfung zu absolvieren. Ludwig Tieck ist mir schon vor einem Jahr in einem Seminar über Märchen begegnet, im Zusammenhang mit seinem schon erwähnten, hochsensiblen Jugendfreund Wackenroder, über dessen ästehtische Mystik ich eine Hausarbeit verfasste.
Wer die Romantiker oder sogar Tieck gelesen hat, kennt die Art zu schreiben, Gedanken beschwörend zu streifen und in tausend grellen Farben des Gefühls das Leben anzustreichen. Wie Novalis, ein weiterer Berliner sagte:"Romantisieren heißt das Unromantische romantisch zu schildern und das Romantische unromantisch darzulegen."
Schon der Satzbau und der logische "Kurzschluss", den dieser Satz hervorruft, lässt an japanische Zen-Koan-Rätsel denken, die Meister ihren Schülern stellen, bis der Verstand vom Greifenwollen ablässt, und ein trans-rationales, d.h. die pure Logik zwar übersteigendes aber nicht verneinendes Gewahrsein aufzuzeigen. Wenn man die Art der Romantiker zu denken, und die Darstellung ihrer Gedanken begreifen möchte und sie mit dem systematischen Regelwerk von Philosophen wie zum Beispiel Kant vergleicht, so scheinen zwei völlig verschiedene Sphären des Diskurses zu existieren. Die Aufklärer wie Kant führen das gesamte Universum auf logische Gleichungen und Naturzgesetze zurück, die Romantiker reiten die Wellen des Gefühls bis an den Rande des Verstands, wo der Wahnsinn sich zeigt wie z.B. in den Werken E.T.A. Hoffmanns, ein weiterer Berliner. Kurz: Sie beweisen Wirklichkeit mit deim Eintauchen in Erfahrung und der Resonanz der Innerlichkeit nach Außen, sei es überstiegenes Entzücken oder quälende Zweifel. Wenn man jemanden wie Kant als Kartograph und Archivwart der beobachtbaren Außenwelt verstehen will, so sind die Romatiker die Kartographen und Entdecker der Innenwelt und ihren Phänomenen, wie der Verliebtheit, der Todesangst, des blanken Wahns, der Einsamkeit.
Was mich also zum Grabe Tiecks bewogen hat, war die Tatsache, dass ich in wissenschaftlichem Rahmen eine These zu formulieren aufgefordert bin, deren Beweishandwerk oder Methodik auf Seiten der Aufklärer, der Beobachter, Bibliothekare und Laboratorienritter liegt und in gewisser Weise "blind" ist für den romantischen Impuls, der sich per Definition nicht "wissenschaftlich" greifbar macht.
So kam ich also dann in schrägem Sonnenlicht an in der Bergmannstraße, ca. zweihundert Jahre, nachdem Tieck feierlich beigesetzt wurde, als es die Internetcafés, U-Bahnen und Diskotheken noch nicht gab, die Radiowellen und Handy-flatrates, Dunking Donuts und Bankautomaten. Aber die Friedhofsmauern sind gleich geblieben. Der Platz wo die sterblichen Überreste Tiecks der Erde die Hände reichen ist immer noch B-8, ein Ehrenplatz an einer besonders schönen Ecke wo die Sonne zwischen hohen Pappeln hindurchscheint, ein kleines Bäumchen neben dem unscheinbaren, rotbraunen Stein. Kein Gedicht, kein Spruch.
Dafür halte ich das 500-Seiten starke Werk "Franz Sternbalds Wanderung" in den Händen und lese den letzten Abschnitt des Kommentars, langsam, sehr langsam, die Schönheit der Natur flüstert mir ins Ohr und die Stille des Hofs weckt älteste Erinnerungen vom Reisen, des Herumstreifens an lauen Sommernächten und nie verloren gegangenen Liebschaften.
Ein paar Sätze des Nachworts geben mir den entscheidenden Schlüssel:"Nicht also um das Ziel, nicht um das Finden geht es, sondern um den Schwebezustand der ewigen Sehnsucht, um die endlose Suche, die nicht endende Wanderschaft, in denen sich die romantische Sehnsucht ja nur objektiviert."
Ich bin sehr dankbar, zwei Meter des Menschen entfernt sitzen zu dürfen wie ein alter Vertrauter, dessen Hauptfigur Franz Sternbald sagt:"Viele suchen schon gar nicht mehr, und diese sind die Unglücklichsten, denn sie haben die Kunst zu leben verlernt, da das Leben nur darin besteht, immer zu hoffen, zu suchen, der Augenblick wo wir dies aufgeben, sollte der Augenblick unseres Todes sein ... Ich will daher immer suchen und erwarten, weil dieser schöne Wahnsinn das schönste Leben ist."
Die Sonne steht schräger und blinzelt über der Kuppel eines goldbestuckten Monuments in mein Gesicht. Ich strecke alle Viere von mir ins Gras. Und ein Konflikt zwischen Gefühl und Gedanke, Schönheit und Wahrheit den ich selbst lange ausgefochten habe, schwenkt die weiße Fahne. Beide haben tausendmal Recht, doch gestehen sich selten zu. In diesem Augenblick ranken sie sich sehnsüchtig nach Heimkehr einander entgegen. Der Dichter bietet dem Wissenschaftler ein Glas Wein an, der Wissenschaftler schenkt die Macht der Entscheidung, den Willen zum Wort, zur Wahrheit.

Meine These will ich auf diesem Blog auch gar nicht detailliert darlegen, sondern die Offenheit dieses Mediums nutzen, in diesem Eintrag wie in allen anderen, in erster Linie die Erfahrung selbst sprechen zu lassen und die Interpretation der Zeilen ganz dem Leser überlassen, denn wenn ich selbst meine Worte interpretiere, so ist das in gewisser Hinsicht Gesetz für den Leser und es schränkt das Spektrum seiner eigenen kreativen Interpretation von vornehrein ein. Also möchte ich hier noch ein paar Worte zu dem oben erwähnten Konflikt sagen, der spätestens seit dem Goetheschen "Ach zwei Seelen in meiner Brust" im kollektiven Bewusstein verankert ist und sowohl in meiner eigenen Persona, wie auch in Freundeskreisen sowohl akademischer wie künstlerischer Herkunft zu beobachten ist. Der Wissenschafter schimpft die Dichtung als Träumerei. Der Dichter verhöhnt die Instrumentarien des Wissenschaftlers als sinnloses Spielzeug. Die Gefühle verlieben sich, der Verstand will die Liebe weg erklären.
Jeder wird wissen, von welchem Konflikt die Rede ist. Tatsächlich ließe sich so weit gehen zu sagen, dass die Fronten hier auf ähnlicher Höhe liegen wie in dem endlosen Geist-Körper "Problem" der Psychologen und wenn man den "Schaffenden", sei es Künstler oder Wissenschaftler von einer psychologischen Perspektive aus betrachtet, lässt sich dieser Konflikt ebenso klar beobachten, wie wenn man sich an die eigene Nase packt.
Kant zum Beispiel war kein Lebemann, er war eher das was man einen Stubenhocker nennt, er ist nie viel gereist, hat seinen Geburtsort nie verlassen und hatte eine intime Beziehung zum Aufziehen seiner kleinen Taschenuhr. Und dieser Mann sollte die Philosophie und ihre Methodik für immer verändern.
Ludwig Tieck hingegen ist gereist wie kein anderer, schon in jungen Jahren, hat sich begeistert in neue Erfahrungen und Rätsel gestürzt, vieles studiert und nichts zu Ende geführt, geschrieben, um sein Brot zu verdienen,immer getrieben von einer beinah hyper-sensiblen Empfindsamkeit und einer überwältigenden Sehnsucht, die sein Protagonist Sternbald besser beschreibt:"O mein Geist, ich fühle es in mir, strebt nach etwas Überirdischem, das keinem Menschen vergönnt ist. Mit magnetischer Gewalt zieht der unsichtbare Himmel mein Herz an sich und bewegt alle Ahndungen durcheinander, die längst ausgeweinten Freuden, die unmöglichen Wonnen, die Hoffnungen, die keine Erfüllungen zugeben."

Solche Zeile mögen dem einen oder anderen schon recht religiös vorkommen, aber tatsächlich ist der ursprünglich mystische Impuls in den Anfängen aller großen Religionen, eng verwandt mit der romantischen Sehnsucht nach dem Überirdischen, dem Himmlischen, Gott, Nirvana, Bewusstsein, etc. Und so wird es nicht verwundern, dass Wackenroder die großen Künstler der Renaissance wie Michelangelo aber auch Albrecht Dürer als Apostel der "Ewigen Kunstreligion" einstuft. Dennoch lässt sich die Mystik nicht mit der Romantik oder Kunst gleichsetzen. Denn der Romantiker nährt sich von einer Sehnsucht nach Unendlichkeit, die er in einer endlichen Welt, in einem vergänglichen Leben per definition! nicht finden kann und so steht neben dem "himmelhochjauchzend" immer schon das "zu Tode betrübt", das Reisen und Suchen wird zur Qual, der schöne Sommertag zerbricht im Nihilismus, bis dann wieder Frühling wird und auch diese Blätter wieder verfallen. So zeigt sich in den Werken der Romantiker auch immer wieder eine Angst vor dem totalen Verlust aller Überzeugungen, da auf stark fluktuierenden Gefühlsbädern nur schwer eine Kontinuität zu erkennen ist. Der Selbstzweifel zerstört alles Sichergeglaubte und die Charaktere knüppeln halbbewusst oder unterbewusst auf ihre armen Seeln ein, ohne ihre Persönlichkeit soweit objektivieren zu können, dass eine Kontinuität, ein sicheres Fundament gegeben ist, auf dem sie ihr Leben aufbauen können. Aber wer sich eine Identität in erster Linie nur auf Gefühlen aufbaut, der ist ständig von Unsicherheiten bedrängt, weil seine Selbstwahrnehmung so wechselhaft ist wie der ständig sich bewegende Strom der Emotion.
Auf der anderen Seite des großen Schlachtfelds, in den Kabinen der ratio hingegen, bilden hauptsächlich Gedanken und Konzepte Nährboden und Labor für Wahrnehmung und Auswertung. Gefühle sind stark biologisch beeinflusst lehrt uns die moderne Neurophysiologie, sie haben also eine engere Beziehung zum Körper als Gedanken. Denn Gedanken sind nicht zeitlich oder räumlich begrenzt. An jedem Ort der Welt, und zu jeder Stunde kann ich die Pythagoras-Formel zur Bestimmung des Flächeninhalts durchführen. Auch wenn Gedanken und Konzepte immer in Veränderung begriffen sind, so gibt es doch eine stärkere Kohärenz, einen Zusammenhalt von Gedanken aneinander und ineinander, sowie eine größere Unabhängigkeit zum Körper und zum Individuum. Beispiel: Dein Gefühl gerade jetzt kannst du musikalisch ausdrücken, du kannst ein Bild malen, aber wenn du stirbst, kann niemand mit Sicherheit wissen, was du gefühlt hast. Schreibst du doch deinen Gedankan auf, gerade jetzt, so kannst du ihn weitergeben, ihn vervielfältigen, abspeichern und archivieren, und auch wenn bei Ideen viel Missverständnis herrscht, so ist doch eine Aussage wie "Religion ist das Opium des Volkes" klipp und klar.

Und wenn wir uns nun der Vollständigkeit halber nun einen Zeitgenossen wie Immanuel Kant und sein Leben anschauen, so sehen wir gigantische Gedankenbauten, die auch heftig kritsiert und diskutiert wurden, aber deren grundlegende Argumente doch bis heute unangefochten blieben sind. Well done, Immanuel ;) Aber wenn man bedenkt, dass ein Mann von solcher geistigen Klarheit sein ganzes Leben hinter dem Schreibtisch verbracht, so ist es doch auch irgendwie schade, dass diese Klarheit in erster Linie in philosophischen "Gesetzmäßigkeiten" hat Ausdruck finden können und nicht auch im Verfassen von Gedichten über eine Blume am Straßenrand, streifenden Blicken zum Horizont oder dem Entzücken über das Rascheln des Sommerwinds durch hohe Pappeln.
Es ist durchaus kein Problem, dass auch wenn viel gedacht, Tieck größere Affinität zum Gefühl hatte und Kant, auch wenn viel gefühlt, sich stärker zum Denken gezogen fühlte. Aber wenn man sich überlegt, dass diese beiden als Vertreter zweier historischer Traditionen aus dem selben menschlichen Potenzial geschöpft haben, so stelle man sich den Mensch vor, der Tieck und Kant Rücken an Rücken in seinem Regal stehen hat und mit ebenso ungebremster Liebe nachdenkt wie einfühlt. Denn macht es die Erfahrung nicht nur noch reicher?